Frage:Wenn man, nachdem der Verteidigungsminister Scharping die wichtigsten Entscheidungen getroffen hat, einen Vergleich anstellt mit den Vorschlägen der Weizsäcker-Kommission im Mai 2000: Wo würden Sie die wichtigsten Unterschiede zum Kommissionsbericht sehen?
General a. D. Carstens:
Lassen Sie mich zunächst über das
reden, was mehr oder weniger vollständig übernommen worden ist: Da ist zunächst einmal die Truppen-Struktur als der wichtigste Punkt. Die Vorstellung der Kommission, dass die operativen oder Einsatzkräfte der Bundeswehr künftig absoluten Vorrang haben müssen und dass dagegen alles, was nach der alten Terminologie Hauptverteidigungskräfte hiess, dahinter zurückstehen bzw. aufgegeben werden müsse, hat Minister Scharping nahezu unverändert übernommen. Ähnliches lässt sich für die
Führungsstruktur sagen. Es gibt einen wesentlichen Punkt, an dem sich die Vorschläge der Kommission quantitativ von denen der Hardthöhe unterscheiden, dass ist die Zahl der Grund-Wehrdienstleistenden. Die wird nach den Vorstellungen der Streitkräfte-Planer um den Faktor 2,5 bis 3 höher sein die Vorschläge der Kommission vorgesehen haben. Dann gibt es natürlich noch die ungeklärte Frage der mittelfristigen Finanzierbarkeit. Hier hat die Kommission ja, um Planungssicherheit zu schaffen, das
Instrument eines Programm-Gesetzes empfohlen, in dem dann für einen überschaubaren Zeitraum von vier bis sechs Jahren die notwendigen Ressourcen auch auf der Grundlage eines Gesetzgebungs-Verfahrens bereitgestellt werden. Diese Vorstellung hat zwar dem Bundesminister der Verteidigung gefallen, nicht aber dem Parlament und seinem Haushaltsausschuss und dem Finanzminister auch nicht.
Frage:
Vielleicht können wir einige grundsätzliche Fragen besprechen. Was die
Öffentlichkeit interessiert, ist ein Risiken-Tableau, welches beinhaltet, was und wo in der Zukunft etwas passieren kann. Gibt es tatsächlich Risiken in der Form, dass man seitens der Verteidigungspolitik so viel aufwenden muss?
General a. D. Carstens:
Also die Frage, wo die nächste Krise ausbricht, wird immer wieder gestellt und manche versuchen auch, sie zu beantworten. Wenn man aber sicher sein könnte, dass diese Prognosen stimmen, hätte man auch mehr Instrumente
in der Hand, um den Ausbruch einer solchen Krise zu verhindern. Ich will damit sagen, dass internationale Krisen sich im allgemeinen unerwartet verschärfen bzw. zu politischem und am Ende möglicherweise auch zu militärischem Handeln zwingen. Was die Aufgabe der Streitkräfte im Lichte dieser Tatsache anlangt, haben uns die Erfahrungen der 90er Jahre gezeigt, dass es ein ziemlich breites Spektrum von militärischen Handlungs-Notwendigkeiten gibt. Lassen Sie mich mit dem Golf-Krieg beginnen. Wenn
der Golf-Krieg zehn Jahre später ausgebrochen wäre, hätte die Bundesrepublik Deutschland eine Beteiligung mit militärischen Mitteln etwa in dem Umfange, in dem unsere beiden grossen westeuropäischen Nachbarn daran teilgenommen haben, nicht vermeiden können. Dass wir im Golf-Krieg mit einem finanziellen Beitrag in beträchtlicher Höhe davongekommen sind, ist ausschliesslich dem Umstand zu verdanken, dass Deutschland noch nicht wiedervereinigt war und die Alliierten verstanden haben, dass man
diesen Prozess stören würde. Auf dem Balkan war die Bundesrepublik Deutschland - nach dem Spruch des Bundesverfassungsgerichtes von 1994 - von Anfang an dabei, und zwar nicht nur deswegen, weil wir unseren Verbündeten Solidarität schulden, und auch nicht nur deswegen, weil der Balkan vor unserer Haustür liegt, sondern auch deswegen, weil wir hier unmittelbare nationale Interessen verfolgt haben, die darin bestehen, dass wir es vermeiden möchten und vermeiden müssen, dass die
Migrations-Bewegungen, die solche Konflikte auslösen, die Bundesrepublik Deutschland betreffen. Wir wissen aus Erfahrung, dass zwei von drei Kriegsflüchtlichen - früher oder später - in Deutschland ankommen. Wir haben diese Erfahrung auf dem Höhepunkt des Bosnien-Konfliktes gemacht und wir haben ein unmittelbares, nationales Interesse daran, im Krisengebiet Bedingungen herbeizuführen, die es den Menschen erlauben, dort zu bleiben. Es hat sich in Bosnien und dem Kosovo gezeigt, dass der
Einsatz militärischer Mittel, wenn eine solche Krise eine bestimmte Intensität erreicht hat, ganz und gar unverzichtbar ist. Militärische Mittel sind kein Ersatz für politische Lösungen, die früher oder später gefunden werden müssen, aber sie sind Voraussetzung dafür, dass politische Lösungen gefunden werden können. Dies haben wir in den 90er Jahren auf dem Balkan zweimal, im Mittleren Osten einmal und anderen Orts auch - z. B. in Somalia oder Kambodscha erlebt. Hier hatte die Bundesrepublik
keine unmittelbaren nationalen Interessen. Dass sie sich an der Konflikt-Lösung in diesen von uns geografisch weit entfernten Regionen beteiligt hat, findet seinen Grund in dem deutschen Interesse, die Handlungsfähigkeit der Vereinten Nationen zu stärken. Sie sind nur insoweit handlungsfähig, wie die Mitgliedstaaten Mittel, ggfs auch militärische, zur Verfügung zu stellen. Da Deutschland als ein wohlhabendes und auch - was technologische und militärische Potenz angeht - grosses Mitglied der
UNO ist, sehen wir uns auch bei jeder Krise mit diesen Erwartungen konfrontiert. Man kann sich, wenn man gute Gründe hat, auch einmal versagen, aber das kann man nicht immer tun, und in aller Regel sind die Staaten von der Potenz und Grössenordnung der Bundesrepublik Deutschland immer in der ersten Reihe, wenn es um die Handlungsfähigkeit der Vereinten Nationen geht.
Frage:
Es gibt eine grundsätzliche Aussage von vielen Experten, dass die Mittel zur Krisenprävention
vor der Anwendung militärischer Gewalt zu gering sind, auf diesem Gebiet zu wenig “Intelligenz” verwendet wird und dass die vorhandenen Möglichkeiten besser angewendet werden müssten. Können Sie aus Ihrer Sicht dazu Vorschläge nennen?
General a. D. Carstens:
Die Krisen der 90er- Jahre haben uns vor allem eines gelehrt: Es geht nicht so sehr um Erkennung, denn offene und verdeckte Quellen reichen in aller Regel aus, um eine sich entwickelnde Krise zu erkennen. Es geht
mehr um die Fähigkeit, oder vielleicht auch um den Willen, das, was sichtbar ist, auch zur Kenntnis zu nehmen und daraus die richtigen und notwendigen Schlüsse zu ziehen. Der sich entwickelnde Balkan-Konflikt war ab Ende der 8oer Jahre absehbar. Ich erinnere mich an die grossen NATO-Übungen der 60er und 70er Jahre. Die Szenarien begannen immer mit dem Ableben Titos und dem Zerfall der Bundesrepublik Jugoslawien in mehrere Staaten. Dieses Krisenpotential ist schon immer bekannt gewesen. Die
internationale oder europäische Politik hat sich wahrscheinlich zu lange geweigert, die Realitäten zur Kenntnis zu nehmen und darauf zu reagieren. Daraus hat sich dann die Situation entwickelt, mit der wir es heute zu tun haben, die am Ende auch zum Einsatz militärischer Mittel gezwungen hat. Mit dem Golf-Krieg hat es sich ein wenig anders verhalten, aber auch hier war seit langem bekannt, dass der Irak ein Aggressions-Potential hatte. Der Irak hatte ja immerhin einen Krieg mit seinem
Nachbarn Iran vom Zaun gebrochen. Die Aggressivität und der Charakter dieses Regimes war schon immer bekannt. Möglicherweise ist auch hier versäumt worden, dem Herrn Sadam Hussein hinreichend überzeugend klar zu machen, welche Konsequenzen eine Aggression gegen einen kleinen Nachbarn haben würde. Möglicherweise konnte er sich in der Hoffnung oder dem Glauben wiegen, die internationale Völker-Gemeinschaft würde das tatenlos hinnehmen oder es bei milden Sanktionen belassen. Im allgemeinen sind
Krisen schon erkennbar, ihre Entwicklung kann beobachtet werden, und dazu bedarf es nicht unbedingt hochtechnologisierter Satelliten-Aufklärungs-Systeme. Möglicherweise ist die Analyse-Fähigkeit unterentwickelt, und der Wille, aus dem Offenkundigen beizeiten die richtigen Schlüsse zu ziehen und danach zu handeln.
Frage:
Wie ist der Vorschlag zu bewerten, in der NATO eine Gruppe vor Experten zu bilden, denen von allen Nationen die Geheimdienst-Berichte zulaufen
und die somit das “intellektuelle Vorwarn-System” sind und der Politik die entsprechenden Vorlagen zur Verfügung stellen. Wäre das eine zu weitgehende Abgabe von Souveränität, ist das denkbar?
General a. D. Carstens:
Nein, dafür gibt es sogar ein Beispiel. Noch aus den Zeiten des 2. Weltkrieges herrührend gibt es einen nachrichtendienstlichen Verbund zwischen den Bündnis-Mitgliedern USA, Gross-Britannien und Kanada, die eine gemeinsame Analyse-Agentur betreiben. Aus
solchen Quellen speist sich das Frühwarn-System der NATO in dem Masse, indem die daran beteiligten Nationen bereit sind, solche Informationen rechzeitig freizugeben. Die NATO besitzt keine eigenen Aufklärungs-Fähigkeiten; sie ist auf das angewiesen, was die Nationen ihr zur Verfügung stellen. Darin liegt auch eine Gefahr, denn die Nationen stellen natürlich nur solche Informationen zur Verfügung, die ihren Interessen dienen und sie halten solche zurück, die sie aus nationalem Interesse nicht
freizugeben bereit sind. Welche Konsequenzen das haben kann, konnte man auch während des Kosovo-Konfliktes beobachten. Also, die Diagnose ist richtig. Es mangelt nicht so an Informationen, sondern es mangelt eher an der Fähigkeit, die Informationen aufzubereiten, sie zu verwerten und zu einem Gesamtbild zusammen zu fügen, was ich zusammen internationale Analyse-Fähigkeit nennen möchte. Heute ist die Masse der Informationen aus offenen Quellen verfügbar. Nur ist die Zahl so gross, dass
man einen umfangreichen Apparat benötigt, um sie für den politischen Entscheidungsträger aufzubereiten.
Frage:
Was sind aus Ihrer Sicht die militärischen Lehren des Kosovo-Krieges?
General a. D. Carstens:
Es ist ja inzwischen allgemein bekannt, dass der Kosovo-Konflikt auch deswegen so lange gedauert hat, weil man den Gegner überzeugend signalisiert hat, was man nicht bereit war, militärisch zu tun. Der Ausschluss einer Option wie der
Land-Operation war sicher ein konflikt-verlängerndes, wenn nicht gar eine konflikt-verursachende Botschaft. Dass man solche Operation allein aus der Luft erfolgreich führen kann, haben viele nicht für möglich gehalten. Aber es ist immerhin gelungen, auch wenn der Preis, den insbesondere die jugoslawische Bevölkerung zu bezahlen hatte, hoch war. Übrigens wird nun auch ein Preis von den Europäern in Mark und Pfennig zu bezahlen sein, denn Jugoslawien muss wieder aufgebaut werden. Eine der
wesentlichen Lehren der Luft-Operationen im Kosovo an die Europäer war, dass sie nicht Herr des Geschehens waren, weil ihnen fast alle Mittel, die man für eine solche Luft-Operation am Ende des 20. Jahrhunderts benötigt und die auch technologisch verfügbar sind, selber nicht besassen, wie z. B. Abstandsfähigkeit, Präzision, auch natürlich Ziel-Aufklärungs-Kapazität. Tempo, Art und Intensität der militärischen Operationen konnten somit von den Europäern kaum beeinflusst werden.
Frage:
Es gibt in Deutschland einige Experten, die den Verzicht auf den Bodenkrieg und die alleinige Durchführung von Militär-Einsätzen aus der Luft propagieren und dies als wichtigste Lehre des Kosovo-Krieges ansehen. Und dies wird auf dem Hintergrund gesehen, dass westliche Gesellschaften in Zukunft eigene Kriegsverluste nicht mehr hinnehmen werden, wie es z. B. im Fall Somalia hinsichtlich der USA deutlich geworden ist. Hätte im Kosovo ein Bodenkrieg mit eigenen Verlusten
stattgefunden, wäre durch die Berichterstattung der Medien ein rascher Meinungswechsel möglich, der die Politik so unter Druck setzen würde, dass letztlich der Rückzug befohlen wird. Beachten diejenigen, die sich mit Verteidigungspolitik beschäftigen, diesen Punkt ausreichend?
General a. D. Carstens:
Es ist schwer, darüber zu spekulieren. Natürlich ist jedes Opfer ein Opfer zu viel, das bei solchen Konflikten zu beklagen ist, aber ich glaube, dass unsere
Gesellschaft in diesem Punkt robuster ist, als viele glauben. Dass man den Bodenkrieg nicht geführt hat, ist ja plausibel und das hat sich am Ende auch als richtig erwiesen. Der Fehler lag darin, dass man es anfangs apodiktisch ausgeschlossen hat und dem Gegner signalisiert hat, was man nicht tun würde. Es gehört zu den elementaren Regeln erfolgreicher Kriegführung, den Gegner immer im Unklaren über die eigenen Absichten zu lassen bzw. ihm klar zu machen, dass man ggfs. auch zum äussersten
Mittel greifen würde. Es von vornherein auszuschliessen, ermutigt den Gegner geradezu; darin lag der Fehler.
Frage:
Wenn man die “Luftkriegs-These” aufnimmt, dann gäbe es ja für die Europäer theoretisch die Möglichkeit, bereits jetzt bei der klassischen Aufgaben-Gewichtung zwischen Heer, Luftwaffe und Marine massiv umzusteuern und sozusagen die USA “einzuholen” auf diesem in die Zukunft weisenden Trend.
General a. D. Carstens:
Die Europäer
sind insgesamt nicht im Stande, die strategischen Fähigkeiten, die die Vereinigten Staaten geschaffen haben und auch künftig unterhalten werden, vollständig selber abzubilden, sondern sie müssen erstens arbeitsteilig vorgehen, und zweitens ihre Schwerpunkte dort setzen, wo die Technologie es im Sinne von Präzision, Abstandsfähigkeit und technischer Aufklärungsmittel erforderlich macht. Wenn man sich die Streitkräfte der grösseren europäischen Partner heute ansieht, kann man in der Tat zu dem
Urteil gelangen, dass sie noch zu sehr von den Strukturen des Kalten Krieges geprägt sind. Dies gilt natürlich insbesondere für die Bundeswehr, und deswegen soll sie ja auch einem Modernisierungs-Prozess “von Grund auf”, wie die Weizsäcker-Kommission gesagt hat, unterzogen werden. Wenn man sich die Zahlen anschaut, über die nun entschieden worden ist, ist es in der Tat so, dass künftig weit mehr Technologie und Qualität und weniger Masse ins Auge gefasst wird. Insofern befinden wir uns - wie
übrigens Gross-Britannien, Frankreich und die anderen Verbündeten - auf dem richtigen Wege. Dieser Prozess wird natürlich noch sechs bis zehn Jahre in Anspruch nehmen. Ganz wird man natürlich auf konventionelle Landstreitkräfte nicht verzichten können und wollen, denn am Ende eines solchen Konfliktes, wie wir das ja im Kosovo gesehen haben, geht es ohne Landstreitkräfte - im Jargon unzutreffend Bodentruppen genannt - nicht.
Frage:
Wie ist die politische Entwicklung
zu beurteilen? Die USA haben am 1. Dezember den Bericht über ihre “Europa-Strategie” vorgelegt. Wenn man das liest, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die USA von den Europäern ein erweitertes sicherheitspolitisches Engagement über die europäische Region hinaus wünschen oder gar verlangen, vor allem aufgrund seines wirtschaftlichen und politischen Gewichts. Geht die weltpolitische Verantwortung über den Horizont der Europäer hinaus?
General a. D. Carstens:
Die Europäer - auch die Bundesrepublik Deutschland - haben sicher dort Verantwortung zu übernehmen, wo z.B. die Vereinten Nationen handeln müssen oder handeln wollen - siehe die Beispiele Somalia, Kambodscha oder Ost-Timor. Dies machen wir aber nicht in unserer Eigenschaft als NATO-Mitglied, sondern als europäische Mittelmacht, die auch Verantwortung für die Handlungsfähigkeit der Vereinten Nationen zu übernehmen gewillt ist. Die Globalisierung der NATO - ich bin mir gar
nicht sicher, ob sie von den Amerikanern wirklich gewollt wird - wird von den Europäern aus guten Gründen nicht akzeptiert. Die Frage, wo der geografische Handlungsrahmen der NATO endet, ist präzise nicht zu beantworten. Grenzen zu ziehen heisst auch immer, alles was jenseits der Grenzen liegt, auszuschliessen. Dies kann ggfs. kontraproduktiv sein. Das euro-atlantische Umfeld schliesst sicher die Krisen-Region Kaukasus ein, nicht zuletzt deswegen, weil der NATO-Partner Türkei diesem
Krisengebiet benachbart ist. Es schliesst sicher auch die Gegenküste des Mittelmeers ein, weil die NATO-Mitglieder, die Anrainer des Mittelmeers sind, ein unmittelbares Interesse daran haben, dass auch in Nord-Afrika stabile Verhältnisse herrschen. Süd-Amerika, die Karibik oder Südost-Asien gehören sicher nicht zu den Regionen, in denen die NATO eine aktive Rolle zu spielen hat. Aber wo dazwischen die geografische Grenze liegt, ist exakt nicht zu definieren, und man sollte das im
Prinzip auch gar nicht tun.
Frage:
Die Europäer wollen sich eine eigene Eingreif-Truppe schaffen. Ist das Szenarium eigentlich relaistisch, welches dieser Politik unterliegt? Man geht von militärischen Einsätzen aus, für die die gleichen Truppen auch an die NATO gemeldet worden sind und davon, dass die USA sich nicht engagieren würden.
General a. D. Carstens:
Ich halte das durchaus für denkbar. Auch dafür bietet der Balkan-Konflikt
hinreichend Anschauungs-Material. Als die Krise auf dem Balkan Anfang der 90er Jahre sichtbar wurde, gab es keine europäische Handlungs-Option. Hätte es sie damals schon gegeben, hätte ich mir durchaus auch eine europäische Intervention vorstellen können. Es hat so etwas in kleinerem Rahmen schon gegeben, als Albanien im Jahr 1997 oder 1998 zerfiel. Drei NATO-Staaten haben sich damals - wenn man so will - zu einer europäischen Intervention entschlossen - einer erfolgreichen “coalition
of the willing”. Es sind viele Situationen vorstellbar, in denen militärisches Handeln auch ohne Beteiligung der USA notwendig und sinnvoll sein kann, wenn die Europäer eine solche Handlungs-Option besitzen. Wenn man sich die erweiternde und vertiefende Europäische Union ansieht, ist es durchaus sinnvoll, dieser politischen Allianz auch einen militärischen Arm zu geben.
Frage:
Wenn es aber über eine Krise wie die in Albanien hinausgeht, wird es doch aber schwierig.
Wenn man sich beim Kosovo-Konflikt nur eine europäische militärische Reaktion vorstellt, hätte sie angesichts der Gesamt-Situation mit hoher Wahrscheinlichkeit scheitern müssen oder wäre bei dem Einsatz von Landstreitkräften bezüglich der eigenen Kräfte nicht so verlustlos ausgegangen, wie es gewesen ist.
General a. D. Carstens:
Deswegen haben die Europäer ja das Spektrum ihrer Fähigkeiten mit den sog. Petersberg-Beschlüssen abgesteckt. Dabei sind solche Szenarien
vorgesehen, die nicht die Intensität der Luft-Operationen im Kosovo oder gar des Golf-Krieges erreichen. Ich kann mir in der Tat einen Konflikt dieser Intensität ohne Beteiligung der Vereinigten Staaten nicht vorstellen. Aber unterhalb dieser Schwelle gibt es natürlich eine Reihe militärischer Handlungs-Optionen zur Eindämmung einer Krise, die Europäer durchaus eigenständig und allein wahrnehmen können, wenn sie ihre “Hausaufgaben” gemacht haben.
Frage:
Die
nächste Frage betrifft die Zusagen der Bundesrepublik Deutschland hinsichtlich der Streitkräfte-Stärken. Die Weizsäcker-Kommission hatte ja 140.000 Mann vorgeschlagen und das Verteidigungministerium ist jetzt bei 150.000.
General a. D. Carstens:
Die Kommission hat 140.000 operative Kräfte mit einer Personalstärke im Frieden von 140.000 Mann vorgeschlagen, die zu Einsätzen ausserhalb Deutschlands verlegt werden können, dort operieren, versorgt werden, und nach
Beendigung des Konfliktes zurückgebracht werden können. Der Verteidigungsminister ist diesem Vorschlag nahezu gefolgt und noch 10.000 mehr für notwendig gehalten. Dies ist ein marginaler Unterschied, der natürlich im Bereich dessen liegt, was bei der Feinausplanung an Anpassung möglicherweise auch sinnvoll ist. Insofern sieht sich die Kommission in ihrem Befund durch die getroffenen Entscheidungen bestärkt.
Frage:
Wie ist es zu erklären, dass man bei den
Einsatz-Kräften so nahe beieinander liegt und in der Gesamtzahl dann ein Unterschied zwischen 240.000 und rund 280.000 festzustellen ist?
General a. D. Carstens:
Dies hat seine Ursache darin, dass man mit der Wehrpflicht anders umzugehen gedenkt, als die Kommission empfohlen hat, und zwar durch einen höheren Ausschöpfungsgrad der verfügbaren tauglichen Wehrdienst-Pflichtigen, um ein höheres Mass an Wehr-Gerechtigkeit sicher zu stellen. Ich halte das nach wie vor nur
für einen quantitativen und nicht für einen qualitativen Unterschied, denn auch mit einer Ausschöpfungs-Quote, die bei rund 100.000 Mann liegt, beruft man natürlich nur einen Bruchteil der jungen Männer eines Jahrgangs zum Wehrdienst ein. Die Kommission hat das Auswahl-Wehrdienst auf der Grundlage der allgemeinen Wehrpflicht genannt. Aus Gründen die offenkundig sind, haben die Streitkräfte-Planer es für notwendig und sinnvoll gehalten, diese Zahlen deutlich nach oben zu verändern, nämlich um
den Unterschied von 40.000 Mann. Dafür gibt es auch nachvollziehbare Gründe. Das Für und Wider kann man im Kommissions-Bericht und den abweichenden Voten, die aus guten Gründen mitveröffentlicht worden sind, nachvollziehen. Dies ist letztlich eine Entscheidung, die die politisch verantwortlich Handelnden zu treffen haben; das kann ihnen auch keine Kommission abnehmen.
Frage:
Wenn man sich anschaut, was die Deutschen bei der NATO oder Europäischen Union quantitativ
einbringen, dann meine ich, dass dies zuviel ist. Sollte man nicht dafür lieber früher und mehr Qualität einbringen?
General a. D. Carstens:
Wenn ich das sog. European Headline Goal als Geschäftsgrundlage nehme und mit dem vergleiche, was die Bundesrepublik Deutschland quantitativ zugesagt hat, nämlich 12.000 Mann Land-Streitkräfte und 6.000 aus Luftwaffe und Marine, dann entspricht das erstens ziemlich genau den Erwartungen unserer Verbündeten und zweitens auch der
Grösse und Bedeutung der Bundesrepublik Deutschland. Wir haben als Faustregel immer gesagt: Eine europäische Streitmacht besteht etwa zu gleichen Teilen aus britischen, französischen und deutschen Beiträgen und das letzte Viertel muss von den anderen europäischen Partnern beigesteuert werden. Dies ist auch ziemlich genau die Grössen-Ordnung, in der sich die zugesagten Beiträge Deutschlands für diese künftige europäische Streitmacht bewegen; die Proportionen stimmen. Was natürlich noch nicht
stimmt, ist die Modernität und die technische Fähigkeit, die ganz unverzichtbar ist. Es wird in der Tat noch ein paar Jahre dauern, bis die Bundeswehr den Modernitätsgrad erreicht hat, der nicht nur aus europäischer, sondern auch aus der Sicht der NATO als notwendig angesehen wird. Es ist ja kein Zufall, dass das, was unter dem Programm “Defence Capabilities Initiative” im Bündnis auf den Weg gebracht worden ist, fast vollständig identisch ist mit dem, was die Europäer zur Schaffung einer
eigenständigen militärischen Fähigkeit machen müssen.
Frage:
Sind vor allem die qualitativen Forderungen der NATO an uns nicht wesentlich höher als die der Europäischen Union, beispielsweise bei den Verlege-Zeiten?
General a. D. Carstens:
Nein, das ist nahezu identisch. Die NATO hat bestimmte Instrumente wie z.B. Immediate und Rapid Reaktion Forces. Immediate Reaktion Forces besitzen die Fähigkeit, innerhalb von zwei Wochen in einem
Krisen-Gebiet zur Verfügung zu stehen. Dabei handelt es sich aber um Grössen-Ordnungen, die weit unter den 60.000 Mann liegen, die die Europäer künftig in 60 Tagen in ein Einsatz-Gebiet bringen wollen. Auch hier bietet der Golf-Krieg wieder ein anschauliches Beispiel. Der Aufmarsch am Golf hat sechs Monate gedauert. Die Vorbereitung einer Operation dieser Grössen-Ordnung ist nicht in Tagen oder Wochen zu leisten - heute nicht und auch künftig nicht. Begrenzte Voraus-Kräfte, die im
Einsatz-Gebiet erstens ein deutliches Signal setzen und zweitens die Voraussetzung für die Aufnahme der nachfolgenden Verstärkungskräfte schaffen, muss man schnell einsetzen. Aber die Vorstellung, dass man 60.000 Mann innerhalb von Tagen über eine Entfernung von tausenden Kilometern in ein Einsatz-Gebiet verlegen kann, ist total unrealistisch.
Frage:
Im Golf-Krieg konnte der Westen ungestört aufmarschieren, was - aus der Sicht des Gegner - ein unglaublicher
strategischer Fehler war. Man müsste ja daraus die Lehre ziehen, dass man beim nächsten Mal dieses “Glück” nicht hat. Die USA wollen ja nach ihren Plänen künftig in der Lage sein, ganze Divisionen in kürzester Zeit zu verlegen.
General a. D. Carstens:
Die Amerikaner wollen natürlich auch nicht ganze Divisionen in Tagen verlegen, sondern verlegebereit machen. Die Operation als solche dauert immer länger, nicht zuletzt auch aus logistischen Gründen oder wegen der
notwendigen Transport-Kapazität. Es ist völlig unrealistisch anzunehmen, dass man ganze Divisionen im Luft-Transport verlegt; dass können weder die Amerikaner noch werden die Europäer das jemals zustande bringen. Und es ist auch gar nicht notwendig. Was man schnell verlegen muss, sind Reaktionskräfte, die ein deutliches Signal setzten, dass da eine rote Linie ist, die nicht ungestraft überschritten werden kann. Die Stärke von Luftstreit-Kräften ist ihre schnelle Verlegbarkeit,
See-Streitkräfte in ähnlichem Umfang. Aber eine grosse Land-Operation bedarf einer zeitaufwendigen Vorbereitungs- und Aufmarsch-Phase; daran werden auch die Pläne der Europäer nichts ändern.
Frage:
Hinsichtlich der Finanzierung hat die Weizsäcker-Kommission die Werte der 33. Finanz-Planung mit einer Anschub-Finanzierung von 2,5 Mrd. DM zugrunde gelegt, was insgesamt ja eine noch relativ leistbare Grössenordnung wäre. Betrachtet man den Unterschied von der 240.000
Soldaten zur 280.000-Armee, müsste man ja eigentlich logisch schliessen dürfen, dass das nicht mehr zu finanzieren ist.
General a. D. Carstens:
Regierung und Parlament sind in der Pflicht zu entscheiden, welche Streitkräfte sie wollen. Die Kommission hat sich ja nur die Mühe gemacht, und das war ihr Auftrag, die Streitkräfte zu definieren, von denen sie glaubt, dass die Bundesrepublik Deutschland sie braucht. Ob das die gleichen Streitkräfte sind, die Regierung und
Parlament am Ende wollen, ist eine ganz andere Frage. Auf der Grundlage dessen, was die Kommission für notwendig gehalten hat, hat sie sich in der Tat der Mühe unterzogen, auch den finanziellen Aufwand zu saldieren, und zwar über den ins Auge gefassten Zeitraum bis zum Jahre 2010. Dies geschah nicht auf der Grundlage irgendeines Finanzplanes, denn es hat keine finanziellen Vorgaben gegeben. Wir haben eine Plus/Minus-Rechnung vorgenommen, die Einspar-Potential gegen das aufgerechnet, was an
Investitionen und für den Betrieb einschliesslich der Personalkosten künftig erforderlich ist. Der Befund lautet schlicht, dass über den gesamten Zeitraum, den wir betrachtet haben, die Bilanz ausgeglichen gestaltet werden kann, weil die Reduzierungen beim Personal und Betrieb im wesentlich die finanziellen Spielräume eröffnen, die im Investitionsbereich für notwendig erachtet werden. Misslicherweise sind die Investitionen schon in haushaltsnahen Jahren erforderlich, weil der
Modernisierungs-Stau offenkundig ist. Die Einsparungen, die im wesentlich durch Streichen von Struktur-Elementen und Reduzierung des kostenträchtigen Personals entstehen, treten aber erst am Ende des Prozesses ein, wenn die Streitkräfte den vorgeschlagenen Umfang erreicht haben. Wenn ich mir den für 2001 vorliegenden Haushalt anschaue, der eine 3 %ige Steigerung enthällt mit möglichen weiteren Erwirtschaftungen, dann lässt sich sagen, dass dieser Haushalt dem Einstieg in die Reform nicht im
Wege steht. Wenn sich dieser Prozess verstetigen lässt, kann die Reform gelingen.
Frage:
Zur Frage einer Raketen-Abwehr hat die Kommission wohl ausgesagt, dass man diese Frage rüstungskontroll-politisch regeln müsse. Bedeutet dies, dass die Kommission keine Notwendigkeit für militärische Massnahmen gesehen hat?
General a. D. Carstens:
Die Kommission war nicht der Ansicht, dass man auf diesem Gebiet nichts tun müsse. Die Kommission hat sich
unter dem Stichwort erweiterte Luft-Verteidigung sehr genau angeschaut, was in dem vor uns liegenden 10-Jahres-Zeitraum technologisch realisiert werden kann und welche Kosten dabei entstehen. Deswegen hat die Kommission zu grösster Vorsicht auf diesem Feld geraten. Erweiterte Luftverteidigung ist ja nur dann sinnvoll, wenn man für das eingesetzte Geld einen einigermassen zuverlässigen Schutz einkauft. Es ist nicht sinnvoll, zwei oder drei besonders empfindliche Objekte zu schützen und das
gesamte europäésche Umfeld ansonsten ungeschützt zu lassen. Verteidigung gegen ballistische Raketen macht nur dann Sinn, wenn man das NATO-Vertragsgebiet, insbesondere den südlichen Teil, in seiner Gesamtheit einigermassen zuverlässig abdecken kann. Die geht nur im internationalen Verbund, und in den nächsten zehn Jahren nicht zu einem Preis, den irgendein Bündnis-Mitglied zu zahlen bereit ist. Es mag ja sein, dass um das Jahr 2010 die Technologie uns eine bezahlbare, ausreichend zuverlässige
Option eröffnet, nur gegenwärtig können wir die nicht sehen.
Frage:
Es gibt ja den Vorschlag von Experten, gegen die aus dem Süden kommende Bedrohung eine im Mittelmeer stationierte Flotte mit Abfang-Raketen zu stationieren.
General a. D. Carstens:
Das wäre ein Mix aus see-, land- und raumgestützen Sensoren und Abwehrwaffen. Wir konnten gegenwärtig für ein Netzwerk, welches den Europäern einen ausreichenden Schutz gewährleistet, keine
finanzierbare Realisierbarkeit entdecken und haben deswegen zu äusserster Vorsicht geraten. Natürlich muss man technologische Entwicklungen beobachten und das Bedrohungs-Potential analysieren. Möglicherweise kommt man Mitte des Jahrzehnts zu dem Befund, dass eine Realisierbarkeit gegeben ist. Aus heutiger Sicht ist das zu einem erschwinglichen Preis nicht der Fall.
Ganz herzlichen Dank und alles Gute für Ihre Zukunft.